Es gibt eine Mattigkeit des Lebens, die eintritt, wenn die Leidensfähigkeit der Seele erschöpft ist. Einfach nur allein sein. Nur einen Augenblick. Und doch ewig gemeint. Das ist, dargestellt in
einem Setting von der Kraft eines Gemäldes von Arnold Böcklin, der Erstarrungspunkt fortschreitenden Stillstands der letzten Derrick-Jahre, der sich in Folge 281, der letzten, in Blei gegossen
manifestiert. Alles ist gesagt. Was bleibt, ist allein sein.
„Ich möchte gern allein sein. Nur einen Augenblick allein sein, bitte.“ So sprach Derrick, um dann zu Helen Schneiders „Hey Mr. Gentleman“ durch Torbögen in eine unbestimmte Ferne zu schreiten.
Ein letztes Umdrehen, der Blick zwischen Trauer, Irrsinn und Leid mäandernd (Bild oben links), Ende und Aus. Keine Worte mehr, vergessen die Stereotypen der Vergewisserung – „Es ist ein Mord
geschehen.“ – „Ein Mord?“ − „Ja, jemand ist ermordet worden.“ – „Ermordet?“, die ohnehin seit den mittleren 90er Jahre bei „Derrick“ an Lautäußerungen von Greisen gemahnten, die sich im
Altersheim über Skatblätter hinweg anschreien. Am matten Ende hebt Derrick selten nur die Stimme, etwa bei „Mord“.
Die Serie spiegelt die Metamorphose eines deutschen Polizeibeamtenlebens wider: Aufklärerische Energie und Tatkraft (bis 1979), Ermittler-Routine (bis 1993), Bleierner Stillstand (bis 1998).
Kommissar Stephan Derrick, in „Waldweg“ stilistisch auf Augenhöhe mit Tatort-Ikone Hansjörg Felmy, strahlte 1974 (Bild rechts) Virilität aus. „Guten Morgen, Frau Göbel“ – sein erster Satz, in
Folge 1. In Folge 281, „Das Abschiedsgeschenk“ heißt es schlicht, Derrick geht zu Europol nach Brüssel. Endlose Mattigkeit, die Abblende Nachkriegsdeutschlands. Nebenbei auch des guten Westens,
der sich in den 1998 und 1997 vom Bildschirm verschwundenden Ikonen wie Horst Tappert oder Eduard Zimmermann (Aktenzeichen XY) manifestierte. Fiktion und inszensierte Non-Ficton vereinten sich
hier im Geiste: Fassungslosigkeit über die Verderbheit des Menschen. Klage über hoffnungslose Jugend, der Leitfiguren, Ziele, Visionen und Ideale fehlen. Eine Daseinsverzweiflung, die Eduard
Zimmermann in der Frage „In was für einer Welt leben wir eigentlich?“ eskalierte.
Den in Sozialkitsch schwelgenden Schöpfern heutiger „Tatort“-Welten gelten derlei düsteren Wahrheiten als Larmoyanz. „Authentisch“ hat es zu sein, ein Begriff, der heute gleichbedeutend mit
Ideenarmut steht. Herbert Reinecker, über ein Vierteljahrundert Autor der „Derrick“-Drehbücher, schuf seine oft als stereotyp geschmähten Charaktere aus der galligen Erkenntnis, dass jede
Generation eben diese neu hervorbringt: Der kalte, schlaubergerhafte Sohn. Die verbitterte Witwe. Der gierige Unternehmer mit Goldrandbrille. Die servile Haushälterin. Der Aussteigertyp mit der
dunklen Seite. Die listige Gespielin. Die naive höhere Tochter. Mit Beharrlichkeit desavouierte Derrick ihre Abgründe. Horst Tappert, er starb am 13. Dezember 2008, beschrieb das Erfolgsgeheimnis
seiner Serienfigur einst so: „Mit Höflichkeit und Anteilnahme sorgt Derrick für eine Atmosphäre des Vertrauens. Menschen sind versessen darauf, daß ihnen jemand richtig zuhört. Sie erleben es so
selten.“ gw